Serendipity

Es ist nur ein Datum. Und doch, irgendwie haut es mich heute schon seit dem Aufwachen immer wieder aus der Spur. Ich vermisse ihn heute nicht weniger, als ich es gestern tat. Und ich werde ihn morgen auch nicht weniger vermissen, als ich es heute tue. Aber ich bin heute ein deutliches Stück emotionaler.

Es ist Großvaters erster Todestag.

Vor einem Jahr saß ich gerade in einer Telefonkonferenz mit meinem Chef, als meine Mutter mich anrief. Noch bevor ich abnahm wusste ich, was ihr Anruf zu bedeuten hatte. Auf dem Display stand die Festnetznummer meines Großvaters. Ich sagte zu meinem Chef Das ist jetzt der Anruf. Und er sagte Geh ran, ich bleib bei Dir. Nachdem ich wieder aufgelegt hatte, vermutlich war es nicht einmal eine Minute, die ich mit meiner Mutter sprach, bestätigte ich meinem Chef die Ahnung und er sprach mir sein Beileid aus und schickte mich nach Hause. Er würde sich um alles andere kümmern. Ich solle nicht wieder ins Büro kommen, bevor ich mich nicht wirklich danach fühle. Auch wenn es Tage wären.

Dies war nicht das erste Mal, dass er mich in Bezug auf meinen Großvater unterstützte. Mein Chef war der Erste, der ihn nicht nur als Grund für die große Lücke in meinem Lebenslauf hinnahm, sondern wertschätzte, dass und wie ich Zeit mit ihm verbracht hatte. Er war derjenige, der mich bereits während meines Vorstellungsgespräches darin bestärkte, dass es sehr richtig und wichtig gewesen war, diesen Schritt gegangen zu sein und mir sogar fast dafür dankte.

Auch in den Wochen vor dem Tod war mein Chef eine emotionale Stütze, fragte nicht nur nach dem Befinden meines Großvaters, sondern auch nach meinem und gab mir mit seiner Ruhe, Erfahrung, offenen Ohren und Herzenswärme die Stärke, die mir half, die Zeit zu überstehen und auch noch Kraft für andere zu haben.

Ich hatte mich damals immer wieder daran erinnern müssen: In fünf Jahren erinnerst Du Dich nicht daran, dass Du keinen Job hattest, ohne Ende demotivierende Absagen sammeltest und verzweifelt und frustriert warst, sondern Du wirst Dich daran erinnern, dass Du Zeit mit Deinem Großvater verbracht hast.

Ich hätte sicher mehr Zeit in bessere Bewerbungen stecken und meiner beruflichen Orientierung mehr Aufmerksamkeit schenken können. Ich habe stattdessen Zeit mit meinem Großvater verbracht. So wertvolle, unwiederbringliche Zeit. Das, was ich aus dieser gemeinsamen Zeit mit ihm gelernt und mitgenommen habe, wird mir niemals jemand nehmen können. Niemals. Es ist das, wovon ich heute zehre. Das, woran ich mich nur zwei Jahre später mehr erinnere, als an die Gefühle der Verzweiflung über meine berufliche Situation und die Unsicherheit über meine Zukunft.

Es war hart.
Und ich zweifelte.
Lies mich durch andere verunsichern.
Und fuhr dann doch zu Großvater.
Immer wieder.
Monate lang.

—–

Vorhin bekam ich eine Anfrage einer jungen Praktikantin aus unserem Hauptsitz, ob ich hier in Hamburg einen Praktikanten unter meine Fittiche nehmen könne. Ich rief sie an, eigentlich nur, um ihr vorsichtig beizubringen, dass ich da keine Möglichkeiten sehe, obwohl ich gerne einem jungen Menschen die Chance geben würde.

Ich erklärte ihr ein wenig meine Rolle und meine Aufgaben, sie fragte interessiert und intelligent nach, über dies und das und jenes. Wir kamen auf ihren weiteren Weg zu sprechen. Sie fragte mich um Rat, bezog sich auf zuvor Erwähntes, schlussfolgerte clever, fragte mehr und öffnete sich langsam über ihre Unsicherheiten bezüglich ihrer weiteren Schritte, wenn ihr Praktikum in einem Monat zu Ende geht.

Sie setzte sich wahnsinnig unter Druck, bald, schnell, jetzt wissen zu müssen, wie es weiter gehen solle. Ich erzählte ihr von der Zeit, in der ich schier verzweifelte, weil ich damals eben dies auch nicht wusste und gleichzeitig das Geschenk der Großvaterzeit erhielt. Ich schloss meine Erzählung mit der Anmerkung, dass es nicht einmal fünf Jahre gedauert hat, bis ich zu der Erkenntnis erlangte, dass es wichtigere Dinge im Leben gibt, als genau und vor allem schnell zu wissen, wie es weitergehen soll, sondern dass ich bereits heute, an seinem ersten Todestag, auf diese Zeit mit tiefster Dankbarkeit zurückblicke.

Und da brach es aus ihr heraus: ihr ginge es momentan ganz ähnlich, neben der ganzen Planung, Organisation und Nachdenkerei, wie es weitergehen solle und dem Schreiben ihrer Bachelorarbeit, führe sie auch jedes Wochenende zu ihrer Großmutter. Aber eigentlich verbringe sie viel zu viel Zeit dort mit Putzen und Dinge für Oma erledigen und wollte doch viel lieber einfach neben Oma sitzen und mit ihr reden, wertvolle Zeit verbringen.

Plötzlich unterbrach sie sich selber, stutzte einen Moment und merkte an, dass sie ja in einigen Jahren nicht zurückblicken und sich denken würde „hätte ich doch nur mehr geputzt“. Sie wirkte plötzlich leichter in der Stimme, erleichtert geradezu und dankte mir für das Teilen meiner Geschichte, das habe ihr sehr geholfen und käme gerade zur rechten Zeit. Ein Knoten habe sich bei ihr gelöst.

Ich kann mir gerade keine schönere Würdigung meines Großvaters und seines Lebens vorstellen, als meine Erfahrungen an einen jungen Menschen weiterzugeben und ihm damit helfen zu können.

Dass ich dieses Gespräch, welches auch mir sehr gut getan hat, gerade heute haben durfte, dass sie mich ausgerechnet heute ansprach und wir telefonierten, das ist für mich der Inbegriff von Serendipity.

Serendipity war eines der Lieblingswörter meines Großvaters.

 

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2 Responses to Serendipity

  1. Katja says:

    Vielen Dank für’s Teilhabenlassen!
    (sagt eine, die durch den Titel angelockt wurde, weil Serendipidity auch eines ihrer Lieblingsworte ist und die ausserdem einen großartigen Opa hatte)

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